Wenn ich mich nur auf die zur Verfügung stehenden Quellen beziehe - und momentan habe ich das Evangelium nach Markus sehr präsent im Kopf, weil ich es in den letzten Wochen mehrfach gelesen habe, verschiedene Übersetzungen verglichen habe, und dazu Kritisches, Ergänzendes und auch naiv Betuliches gelesen habe, und zwar ganz gelesen, so wie man ein Musikstück komplett überblicken kann: Dann melden sich einige "Strömungen" von Deutung, Rekonstruktion, Empathie, derart, wie ein Profiler seine Indizien puzzelt und ein Bild zu bilden versucht, in dem immer wieder ähnlich denkbare Kombinationen wechseln und möglich scheinen, aber von anderen wiederum abgewechselt werden:
Jesus war ein Naturbursche aus der dörflichen Welt. Seine Jünger ebenfalls (die Zwölf, die ja auch mit Namen benannt sind und die auch nach Jesu Tod sehr real sind, wonach sie nicht als Konstrukt gewertet werden müssen. Jakobus war ziemlich sicher Jesu leiblicher Bruder, und dem Johannes war er offensichtlich zärtlich zugetan). Dann gab es auch weibliche und männliche Anhänger und Mitläufer unterschiedlicher Herkunft. Und Kontakte zu ganz verschiedenen Bevölkerungsschichten, hauptsächlich aber zu den Underdogs, zu den Ungeliebten, den vom Leben Beschissenen, wegen derer „ihm weh ums Herz“ wurde und er „ergrimmte“ vor Schmerz, wie Fridolin Stier übersetzt (welche Blässe hat das Deutsche der Einheitsübersetzung: Und Jesus hatte Mitleid; und dergleichen mehr).
Jesus war als Heiler begabt. Solche gab es vor und nach ihm, bis heute. Heilerinnen. Dumme aber mächtige Männer haben sie oft als Hexen missverstanden und ermorden lassen. Jesus hat vielen Menschen geholfen. Seine suggestive Kraft muss enorm gewesen sein, er hat Menschen ihr gebrochenes Ich wieder aufgerichtet, so dass sie nicht mehr mit ihrer Krankheit sich schützen mussten (nicht sehen, reden, hören, sprechen, sich bewegen konnten, und wie tot lagen). Diese Befreiung war für viele derart beflügelnd, dass sie ihm nachlaufen wollten - er aber hat sie jedes Mal wieder heim geschickt: „Geh wieder zu den Deinen.“
Warum ist er nicht in Galiläa geblieben, am Mittelmeer (heutiger Libanon) am Galiläischen See? Er sah seine Kraft als die eines Höheren an, die durch ihn fließt aber nicht von ihm kommt (das sagen Heiler auch heute!), sondern von seinem Vater in den Himmeln, wie er Gott nannte, den Unnennbaren nach jüdischer Lehre, und das war für ihn der Eine, dessen Namen heilig ist, einmalig und unaussprechlich, der, der sich Mose geoffenbart hat, indem er sagte: Ich bin der Ichbinda. Welch grandioser Moment, in dem die ganze Welt verankert ist, einen Bezugspunkt bekommt, so dass man nicht mehr weiter fällt ins Namenlose, und wenn schon, dann nur so weit, bis im Urgrund seine Hand uns auffängt und birgt. Das ist ein Wunschtraum, meine letzte Hoffnung, für die ich keine Gewissheit habe, ohne die aber dieses Fallen mich schwindlig macht!
Und diesen Einen, für den die Juden zurecht kein Bildnis zulassen, dem sie, vermutlich deswegen, weil eben das Materielle fehlt, durch minutiöse Befolgung von Hunderten von Gesetzen und Regeln sich so unterstellen, dass manchen kaum ein Schnaufer mehr noch möglich ist, diesen nennt Jesus nicht nur Vater sondern Pappalein - galiläisch: Abba - eine Plappersilbenfolge des Krabbelkindes, ins Gesicht des Vaters gelallt, der es hochhält. Lallen ist die wörtliche Entsprechung zum Hallel, dem biblischen Haleluja, das geisterfüllte Jubelwort ohne eigene Wortbedeutung. Und solche Rede (zusammen mit anderen für gestrenge Juden nicht hinnehmbaren Vereinfachungen: Gesetze sind für Menschen, nicht umgekehrt), provoziert das religiöse Establishment seiner Zeit.
Weil nun Jesus glaubt, wie seine ganze Umwelt damals, dass die Herrschaft Gottes unmittelbar bald hereinbrechen wird und auf Erden alles wieder gerade rücken und aufrichten und ordnen und klären und richten wird, hielt er seine eigene innere Kraft für einen Strom dieser sich ankündigenden Gottespower. Man muss annehmen, Jesus hielt sich für durchaus für einen besonderen Menschen, sicher war er auch erschüttert, nachdem er bemekrt hatte, was er kann (so wie die heutigen heiler es auch berichten), einer durch den Gott sein Wirken augenscheinlich und fühlbar und erlebbar macht. Und das dürfte nicht weit davon weg gewesen sein, wie man sich den Gesalbten, den Messias gedacht hat: Ein Wirkmächtiger, ein bezwingend Starker, ein Wegweisender. Sicher haben ihn seine Genossen gefragt (allesamt schlichte Gemüter vom Lande und vom Wasser): Lehrer (so nannten sie ihn, weil er für sie und die Landbevölkerung als klug und seine Sätze zwar provokant aber bedenkenswert waren), Lehrer, die Propheten haben den Messias angekündigt - bist du es? Und er hat gesagt, laut Markus, seid still, sagt es niemandem. Und das vielfach. Immer wieder beendet Markus solche Szenen mit diesem Schweigeappell. Er hat auch gefragt, was sagen die Leute, wer ich sei? Das sind keine Testfragen, daraus spricht die eigene Irritation: Wie werde ich gesehen, wer bin ich denn wirklich, was geschieht mit mir, durch mich, was kann ich da, will ich es überhaupt (er ist ja immer wieder den Menschen entflohen, bis sie ihn wieder aufspürten und ihn dieses Grimmen im Leib ergriff ob ihrer drängenden Suche nach Leben und heil Sein, das ihnen offensichtlich in ihrer kulturellen Tradition nicht mehr gegeben worden ist. Stier übersetzt: Die Menschen muteten sich ihm zu.).
Ich glaube, dass Jesus schwer mit sich gekämpft hat, ob er „dran bleiben“ solle, ob er seine Überzeugung vom Nahen seines Gottes unerschrocken und gegen die Anfeindungen der etablierten Religion weiter leben und darstellen soll. Und er ging eben doch nach Jerusalem, langsam aber zielstrebig, geradezu zwangsläufig. „Ein Mann muss tun was ein Mann tun muss“, man kennt das aus den Wildwestfilmen. Jesus war im „Wildost“, von uns aus gesehen, in einem von Hass gegen die Besatzungsmacht brodelnden Land, mit härtesten Strafen gegen jedweden Aufruhr. Und da geht er nach Jerusalem und legt sich im Tempel mit den Herrschenden der jüdischen Welt an (nicht mit den Römern!), provoziert, greift ein, stellt den Tempelbetrieb in Frage. Das kann nicht gut ausgehen, das weiß er, und seine Mitläufer wissen es auch. Er hat es ihnen immer wieder gesagt. Sie staunen über die gewaltige Architektur der Stadt, der Paläste und des gigantischen Tempels. Sie fühlen sich vermutlich nicht wohl in der Großstadt. Und doch: mitten dort drin macht er Aufruhr und seine Mitläufer sind dabei und scheißen sich vor Angst vermutlich in die Hose.
Dem römischen Statthalter ist das wurscht, ob Jesus den religiösen Frieden stört, er duldet aber nicht, dass die Ruhe, diese erste Bürgerpflicht überhaupt in Frage gestellt wird, gestört wird, egal wodurch oder durch wen. Wer dagegen verstößt springt über die Klinge. Und deswegen kommt er dem Drängen der herrschenden jüdischen Oberklasse nach, und lässt Jesus kurzerhand hinrichten. Seine Vorbehalte legt er achselzuckend zur Seite, diese geradezu amüsierten Frage „Bist du der König der Juden?“. Er kennt doch die jüdischen Fürsten, mit denen verhandelt er. Die müssen ihm parieren. Das haben nach dem Krieg die Amerikaner, Briten und Franzosen mit Westdeutschland und die Russen mit Ostdeutschland so gehandhabt. Und da steht nun einer vor ihm, vom Lande, ein Ungebildeter, der aber kluge Reden führte und dennoch keinen Ton mehr sagt. Er ist aber nicht römischer Oberkommanierender um sachverständige Dispute zu führen, erst recht nicht, um die Religionsstreitereien der Juden zu verhandeln, sondern die Ruhe dieses aufsässigen Volkes zu gewährleisten. Und Jesus wird, noch vor dem Fest, weswegen die Stadt gerammelt voll ist, kurzerhand an den Balken genagelt und aufgehängt, zusammen mit zwei anderen, die auch zufällig an diesem Tag fällig sind: Aufrührer, Wegelagerer, Meuchelmörder gegen seine syrischen Soldaten, wie viele Tausende vor und nach Jesus während der Amtszeit des Herrn Pontius Pilatus (der ist nach ca. 12 Dienstjahren mitsamt seiner Frau nach Britannien strafversetzt worden, weil er es aus Sicht der kultivierten römischen Staatsmacht doch etwas zu hart getrieben hatte, als Provinzgeneral und mit dem kurzerhand Hinrichten).
Einmal in die Mühle geraten kommt Jesus nicht mehr raus. Er stirbt unerwartet schnell, normalerweise zieht sich das über Tage hin, seine Mitläufer laufen vorher schon weg, nur seine Mitläuferinnen bleiben da und wollen es nicht fassen. Man könnte in bitterem Zynismus Witwe Bolte abwandeln: Ihres Lebens schönster Traum, hängt an diesem Kreuzesbaum. Aufgehängt und angenagelt, ein Bild des Schreckens und der Verzweiflung.
Am Kreuz schreit Jesus einen Psalm, den er sicher schon als Kind gehört hat. Soldaten in Stalingrad haben in der Nacht ihres bevorstehenden Untergangs gebetet: Müde bin ich, geh zur Ruh - weil ihnen nichts anderes mehr einfiel in ihrer Verlassenheit:
Am Kreuz schreit Jesus einen Psalm, den er sicher schon als Kind gehört hat. Soldaten in Stalingrad haben in der Nacht ihres bevorstehenden Untergangs gebetet: Müde bin ich, geh zur Ruh - weil ihnen nichts anderes mehr einfiel in ihrer Verlassenheit:
2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. 3 Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe. 4 Du aber bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels. 5 Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus. 6 Zu dir schrien sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden. 12 Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer.
Fridolin Stier übersetzt: Warum hast du mich im Stich gelassen. So schreit keiner, der weiß, dass er für die Sünden anderer stellvertretend geschlachtet wird. Das haben andere tatsächlich gemacht, im KZ der Nazis, sich stellvertretend hinrichten lassen. Bei Markus gibt es keine prophetischen Worte an die beiden Delinquenten neben ihm. Da stirbt Jesus rasch und ohne theologische Spur.
Nach seinem Tod war sein Leib bald nicht mehr da, wo man ihn hingelegt hatte. Und ab da sprudelten die Deutungen, begünstigt durch Visionen und Erscheinungen, die Jesu allein gelassene Mitläufer erlebten. Und es formte sich eine Bewegung, die im Nachhinein die realen Erfahrungen mit Jesus auf dieses Ereignis hin ausleuchteten und es theologisch werteten, weshalb die Redakteure (Evangelisten) vieles nicht als bloß erinnernden Bericht, sondern als damals noch nicht verstandene und heute erst begriffene Sätze und Haltungen und Hinweise formulierten.
Dazu kam wohl die Erfahrung, dass ihnen, den Hinterbliebenen, ein Selbstbewusstsein zugewachsen ist, das sie beflügelt hat, nicht sofort, aber sich mehr und mehr stabilisierend, anfangs getragen von Begegnungserfahrungen, die geradezu märchenhaft sind, aber für die Frauen und Männer in Jesu Nachfolge ein Quell gewaltiger Kraft.
Wie ich damit heute umgehen soll, weiß ich nicht. Man kann nicht glauben so wie man eine Partei wählt. Vermutlich ist es am besten, man befolgt Jesu Rat, den er denen gab, die er verändert hatte: Heimgehen, still werden und nicht herumhopsen und jodeln, das Nächstliegende tun, dankbar sein und nicht mehr zulassen, dass ungesunde Menschen andere krank machen, indem sie sie durch ihre Macht, ihr Geld und ihre intellektuelle Verschlagenheit am Leben hindern.
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