Stuttgart war für mich die Stadt meiner Tante Anna. Nach dem Krieg, zur Zeit um die Währungsreform 1948, war ich schon oft in Stuttgart gewesen, immer an der Hand der Tante, die mich durch die Straßen und über die vielen Stäffele geführt hat. Zuerst nur bis zum Wilhelmsplatz, dann in den Braunweg, dort oberhalb des Stuttgarter Ostens, wo die Pischekstraße vollends nach Sillenbuch hinauf führt. Und später in die Stafflenbergstraße, nicht ganz so weit, aber oftmals zu Fuß.
Gearbeitet hat Tante Anna in der Weißenburgstraße, Hausnummer 13.
Diese Häuser im Heusteigviertel waren kaum beschädigt durch Fliegerbomben. Weiter ins Zentrum aber ging man an einer Ruine nach der anderen vorbei. Die sahen alle gleich aus. Die Reste der vier Hauswände waren von Eck zu Eck geschwungen wie Brückenbögen, die auf dem Kopf stehen. Vorne, zum Gehsteig, der wie ein Flickerlteppich zerrissen und stolperig war, sah man Kellerfenster. Die Sandsteinblöcke, aus denen alle diese Häuser in der Gründerzeit gebaut worden waren und die vordem die Luken umrahmten, schauten gerade noch aus dem Erdboden. Zwischen den Mauerresten die Schutthügel, Planquadrate des Elends. Sie füllten den ganzen Keller und ragten mäßig höher auf als der frühere Boden des Erdgeschosses, ungleich geformt, wie ein Mittelgebirge im Modell, hügelig und kantig, mit Abbrüchen und aufragenden Formen, auch mit höhlenartigen Einbrüchen, geologischen Aufschlüssen gleich, die eine Geschichte erzählen. Der Schutt war mit Backsteinen garniert oder mit sperrmüllartigen Gestellen aus Blech, hie und da Fliesen, geborstene Fensterrahmen, und alles war überwuchert von gelbgrünen Stauden. Manchmal sogar ein Strauch oder ein junges Bäumchen. Drei, vier Jahre waren ja schon ins Land gegangen seit dem Inferno aus den britischen und amerikanischen Bombern.
Diese Ruinen reihten sich aneinander wie kaputte Zähne in einem Riesengebiss. Ich spürte, dass sie alle sagten, es ist vorbei, wir waren einmal, nun sind wir tot. Umso merkwürdiger schien mir die für mich nicht greifbare Lebendigkeit der belebten Stadt. Die vielen Leute, die keine Zeit hatten, ihre ärmlichen Kleider. Die seitlich herunter geklappten Kappen der Kriegsheimkehrer, die im Caritasverband in der Weißenburgstraße ein warmes Essen bekamen und Essenspakete und Kleider mitnehmen durften. Tante Anna und Frau Kling verteilten die Sachen, schrieben alles in Bücher hinein, telefonierten und palaverten, und rutschten auf drehbaren Stühlen um die zusammengewürfelten uralten Schreibtische herum. Dunkelbraun waren die, ungleich hoch, mit Wackelfüßen und rasselnden Rolltüren, und mit Tintenflecken.
Im Nebenraum stapelten sich Fässer, Säcke und Pakete aus Amerika. Es roch im ganzen Haus nach Erdnussbutter, Milchpulver und Mottenpulver, nach Marmelade in riesigen Blecheimern und nach feuchten Brotlaiben.
Keiner dieser Düfte hatte etwas mit denen aus Omas Küche zu tun, in der ich aufgewacht bin zum Leben, wie Fritz Hölderlin von sich gesagt und es nur ein paar Minuten weiter erlebt hat. Die Stuttgarter Gerüche waren die fremden Gerüche, die Leben und Dynamik suggerierten, die Vorsicht geboten in einer geschändeten Stadt.
Bei der Oma roch es nach Einbrenne und brauner Soße, nach richtiger Milch und Äpfelchen aller Art, und manchmal nach Tabakblättern, die Opa und Papa auf der Veranda mit Wäscheklammern an die Leine gehängt hatten. Warmer Malzkaffee und Brot mit Marmelade, Bratkartoffeln und Hefezopf waren meine persönlichen Düfte. Schon morgens roch es nach Brotteig und frischen Brezeln, Duftwolken aus der Backstube vom Bäcker Belser, die über das Treppenhaus und über die Verandatreppe nach oben in unsere Wohnung stiegen. Die Großeltern wohnten über der Bäckerei, wir bei ihnen, am Platz mit dem Ochsenbrunnen, der kurz zuvor noch Adolf-Hitler-Platz geheißen hatte und jetzt wieder Schillerplatz hieß.
In Stuttgart indessen strömten die Düfte der fremden Welt um meine Nase, und Tante Anna verwaltete sie, verteilte sie, regulierte sie. Dazwischen hatte der liebe Gott eine Bahnfahrt gelegt, die mir nie zu lang war, weil es so viel zu sehen gab. In den einen Bahnhof hinein und zum anderen wieder heraus zu kommen empfand ich wie den Durchlass bei Frau Holle, ein Tor, das einen verändert wenn man hindurch schreitet.
Nie hätte ich mir deshalb denken können, dass auch in Nürtingen zahnluckerte Ruinen zwischen den Häusern entstehen könnten. Meine Stadt war mein Halt und mein Hort, so sicher wie der breite Schoß der Oma, auf den ich meinen Kopf legen konnte, wenn sie auf dem Sofa saß. Meine Stadt, für mich gebaut, von der Neckarbrücke bis zum Bahnübergang, von der Allee bis zu den Strickwarenfabriken. Und ich oben drauf, zwischen den Brunnen und in den Gassen. Selbst bei Umbauarbeiten, deren es später viele gab, hatte ich nie diese fröstelnde Gewissheit von Endgültigkeit, die mich zwischen den Ruinen der Hauptstadt anwehte. Meine Stadt schien davor gefeit. Bis vor kurzem.
Das Haus, in dem mein Urgroßvater Heinrich Thumm und später meine Oma gewohnt hatte, ist platt gemacht worden, mit Stumpf und Stiel heraus gerissen worden. Es war das erste Haus in Nürtingen mit Eigentumswohnungen, mittlerweile baufällig geworden und jüngst entsorgt. In der Hundsgasse steht nun eine Ruine. Mit Erdhügeln dort, wo vorher der Backsteinflur war, mit Staudenbewuchs und einem verlotterten Bauzaun zur Straße. Eine tote Welt.
Als ich dieses Lochs zum ersten Mal ansichtig werden musste, im vorüber Fahren mit dem Auto, fühlte ich mein Leben amputiert und war wütend. Jetzt könnte ich auch gleich über die Neckarbrücke zur Stadt hinaus fahren und nicht mehr wiederkommen. Ein bedeutender Ort meiner Kindheit war weg, abgeräumt und ausradiert. Wo sollten jetzt die Großeltern und der Urgroßvater bleiben? Aber da entdeckte ich plötzlich eine Vorstellungskraft, die zuvor nie in Erscheinung getreten war. Ich konnte den leeren Raum zwischen den beiden Nachbarhäusern, die immer noch in der geraden Linie der früheren Stadtmauer standen, mit meinen Erinnerungen füllen. Als ob ich Rauchringe in die Luft bliese, oder Seifenblasen, oder so wie man ein Puppenhaus einräumt: so setzte ich die alten Leute meines jungen Lebens an ihren angestammten Platz. Ich weiß ja genau, wo Großvater Heinrich gesessen, mit dem Rücken zur jetzt offenen Alleenstraße. Ich weiß, wo die beiden Schränke der Oma im Schlafzimmer stehen, die steilen Betten, und das Sofa in ihrer Stube, auf dem sie sitzt, und zu mir Oh, Bua sagt, drei Tage bevor sie stirbt, weil kein Mensch wahrnimmt, dass die Zuckerkrankheit sie zerstört.
Jetzt weiß ich, wie man mit dem Modewort Verortung umzugehen hat. Verortung braucht keinen Boden und keine Wände, keine Häuser und Geländer, keine Dächer und Stufen. Verortung meint Koordinaten, Plätze an der Luft und in der Luft, Stellen, deren Stabilität sich in meinem Kopf abspielt und die ihre fixen Widerlager im Koordinatensystem der Planeten haben.
Und da sitzen nun Großvater Heinrich, und Oma und Opa, in einem Haus aus Luft. Und immer wenn ich vorbei komme, sehe ich sie. Und sie blinzeln mir zu, aus der Luftleere ihrer Ruine, Figuren meines Lebens, die niemand mehr aufzieht um sie agieren zu lassen. Sie kleben nicht an Wänden wie Schnecken am Aquariumglas. Sie schweben im Raum wie Fische im Wasser. Und manchmal regnet´s in dieses virtuelle Puppenhaus, und das sind Tränen, von denen es früher zu wenig gab, weil sie nicht sein durften in jener engen Welt. Und jetzt alle Freiheit haben.
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