Das populärste Weihnachtslied beginnt so:
Stille Nacht, heilige Nacht,
Alles schläft, eynsam wacht
Nur das traute, hochheilige Paar...
Nicht nur mir hat dieses Idyll schon in Kindertagen die Empfindung erzeugt, dieses Paar sei zwar hochheilig, also geradezu unberührbar, aber eben doch verlassen, geradezu vergessen, ja, vereinsamt. Natürlich verstärkt die Rührseligkeit der ganzen Lied-Geschichte diese Stimmung: Niemand will sie haben, diese bescheidenen Leutchen, die doch nur etwas Wärme brauchen, Wasser vielleicht und ein Lager zum Kind gebären.
Ein Sprachwissenschaftler, an dessen Name ich mich nicht entsinne, hat vor einigen Jahren im Südwestrundfunk diesen Irrtum korrigiert. Im Sprachraum des Hilfspfarrers Josef Mohr und des Organisten Franz Xaver Gruber, in Oberndorf bei Salzburg, vor rund 200 Jahren, bedeutete einsam nicht verlassen sondern alleine, sozusagen ungestört. Der Dichter wollte nur sagen, dass Maria und Josef alleine waren, für sich und bei sich, eben traut beieinander. Also keine Wehmut, keine Bitterkeit. Kein Mitleid ist zu heischen, keine Träne zu vergießen. Das heilige Paar war zufrieden, meinte Josef Mohr, geradezu glücklich. Eine romantische, alpenländische Idylle, Berghütte, Sternenzelt, Schnee, Kaminfeuer, zwei Liebende, die bald ihr Kind in Händen halten werden. So fantasiere ich Mohrs Vorstellung weiter.
Im Nachlass meiner Tante Anna, die im Frühjahr 2006 im 94. Lebensjahr starb, fand ich ein bedrucktes Blättchen: Einsamkeit. Ein Text des amerikanischen Jesuiten und Psychologen Eugene Bianchi, dessen trostreiche und zum Nachdenken anregende Bücher sich auch im Nachlass meines Vaters gefunden haben. Ein Anselm Grün aus Amerika. Einsamkeit, so meint Bianchi, kann auch im Alter zum Charisma werden. Tante Anna, zeitlebens unverheiratet und mehr alleine-einsam als ich dem Gesicht der selbstbewussten und erfolgreichen Frau ablesen konnte, hatte das Blättchen in einen stabilen Plastikschuber gesteckt, mit starken Gebrauchsspuren, vergilbt und weich. Ich vermute, dass Bianchis Text sie durch die Jahre des Altwerdens begleitet hat, täglich oder wann immer sie das Blatt auf dem Nachttisch liegen sah (in der Schublade habe ich es entdeckt, beim Ausräumen der Wohnung, nach ihrem Tod). Ein bedenkenswerter Text, den man womöglich nur begreifen kann, wenn man die Einsamkeit kennt, ob es nun die Verlassenheit ist oder das Alleinsein.
Der "einsame" Lesezettel meiner Tante Anna |
(wird fortgesetzt)
der text gefällt mir, denn einsamkeit ist nur dann keine, wenn man sich selbst liebt und es gut mit sich aushält
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