Als ich ein Engel war

Freitag, 25. Februar 2011

Fundus (5) : Sterbebild

Sterbebildchen gibt´s vor allem in der oberschwäbischen Heimat meine Vaters. Eugen Wipper ist am 5. November 1913 in Moosbeuren geboren. Dort war sein Vater Dorflehrer und Organist, ebenfalls ein Eugen Wipper. Dann wurde Krieg gemacht und Eugen Wipper im Sommer 1917 vor Reims in Frankreich von einer Granate zerrissen. Als die Nachricht kam, und die Mutter unter Tränen der Verzweiflung ihren drei kleinen Kindern erklären musste, was geschehen ist, so erzählte meine Tante einmal, sei der kleine Eugen durchs leere Schulhaus gerannt und habe immer nur gerufen Wo isch mei Babbele? Babbele, wo bisch du denn?

Seit seinem 16. Lebensjahr litt mein Vater nach einem Unfall an einer Rückenmarksverletzung, die ihn Jahr für Jahr unbeweglicher und hinfälliger machte, bis er im August 1979 sterben musste, keine 66 Jahre alt. Zwei Wochen zuvor, kurz bevor er bettlägerig wurde, saß ich noch bei ihm im Wohnzimmer, er in seinem Rollstuhl am Schreibtisch, seinem einzigen Arbeitsgerät als Amtmann in der Finanzbehörde. Der Tisch gab ihm Halt und Sicherheit, körperlich und seelisch. Ich saß ihm gegenüber, wie sein Mandant, wie immer. Seine Zigarette, wie immer eine etwas teurere Virginia (oder auch eine seiner ägyptischen) fiel ihm aus der Hand - das steuernde Nervensystem brach seit Monaten mehr und mehr zusammen, und er weinte leise: Net amol mei Zigarett kann I meh halta. Ich hatte nichts zu erwidern, diesem Mann, den ich als Kind jahrelang gesucht und um ihn geworben hatte, der aber kaum mehr als das Nötigste mir sagte, und wenn, dann vor allem Korrekturen meiner Entscheidungen.

Die beiden Texte auf dem Bildchen hat Tante Anna, seine Schwester, ausgewählt und gegenüber gestellt. Die Worte berühren mich seither unverändert, und ich rätsle, wo dieser Schleier weht, der vermutlich dünner ist als eine Zellwand, und woher die Liebe kommt, die hindurch dringt, von der man mir immer nur erzählte, die ich aber nie spürte.

Sterbebild meines Vaters Eugen

2 Kommentare:

  1. die nicht gespürte liebe ist bis heute zu merken,
    die ist leider von aussen nicht zu ersetzten

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  2. Lieber Reinmar,

    ich kannte deinen Vater ja kaum...erinnere mich nicht mal an seine Stimme (das ist bei deiner Mutter anders, ich sehe sie sofort vor mir, höre auch ihre Stimme...). In meiner Erinnerung taucht ein schmaler stiller Mann auf, der sehr zurückgezogen wirkte...den man höchstens im Halbprofil oder von hinten sah. Ich dachte immer, er hätte durch eine Kriegsverletzung ein hinkendes Bein. Dass du einen schweren Stand als Sohn bei ihm hattest, wusste ich bis heute nicht. Nur eins fiel mir damals auf: er war irgendwie nicht präsent für mich, nur deine Mutter. So, wie ich es von den Kriegerwitwen kenne...
    Nachdenklichen Gruß von Anita

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