Am 14. Juli 2011 war ich als Organist zu einer Trauung mit Brautmesse nach Neuffen bestellt. Der Anlass entwickelte sich zu einer eindrücklichen Veranstaltung mit der Überschrift: So nicht!
Im Vorfeld hatte die Braut mit mir telefonisch ausgemacht, dass insgesamt vier „moderne“ Lieder gesungen werden sollten. Dabei bat ich sie, die restlichen Lieder, sowie den liturgischen Verlauf mit dem Priester abzusprechen und schriftlich festzuhalten. Es würde mir reichen, wenn ich vor der Trauung den Ablauf in die Hand bekomme. Ich habe zudem darauf hingewiesen, dass für die modernen Lieder kein Liederbuch vorhanden sei, die Texte also in geeigneter Form gedruckt werden müssten.
Überdies waren zwei Hochzeitsmärsche gewünscht, die zwei: einmal Wagner, einmal Mendelssohn; zumindest schloss ich dies aus den ungefähren Beschreibungen der Stücke aus dem Munde der Braut am Telefon.
Am Tag der Trauung war ich 15 Minuten vor Beginn in der Sakristei. Der Priester war noch nicht da, ein Ablaufplan lag nicht vor, es gab kein Liederheft, auch nicht im Kirchenraum, und der Mesner wusste nur, dass die Trauung um 13 Uhr 30 beginnen sollte. Also mache ich mich auf die Suche.
1. Station – Pfarrhaus, 13 Uhr 20:
Das Pfarrhaus ist der Kirche angegliedert. Man geht von der Sakristei durch drei Türen, zuvor am Klo vorbei, und schon sieht man: Das Brautpaar sitzt nebeneinander auf zwei Stühlen hinter dem Bürotisch und wartet. Der Priester ist noch nicht zu sehen.
2. Station - vor der Kirche, 13 Uhr 23:
Eine Vielzahl von Gästen, keine kirchenamtlichen Personen.
3. Station – Sakristei, 13 Uhr 25:
Jetzt ist der Priester da. Es ist Pater N.N., aus Togo, der die Vakanz in der Pfarrei übertragen bekommen hat. Ein attraktiver Gentleman in Gucci-Schuhen. Attitüde des privilegierten Großjunkers. Damen der Gemeinde laufen sich die Hacken ab für den Dandy. Später berichtete mir ein Kenner der afrikanischen Westküste, der dort jahrelang gelebt hatte, die dort rekrutierten Priester stammten allesamt aus dem elitären Geldadel; Priester-Sein sei für sie eine Bestätigung des feudalen Selbstverständnisses; sozusagen Verwalter animistischer Praktiken, Medizinmänner, die „Hoc est enim corpus meum“ als Beschwörungsformel begreifen; schätze ich mal).
Ich bitte den Herrn, der noch gar nicht angekleidet ist, um einen Ablaufplan. Er hat keinen, sagt unwirsch, dies sei Angelegenheit des Brautpaares, und das sei ja bereits mit mir als dem Organisten abgesprochen und erledigt. Er wendet sich ab und lässt mich stehen. Man muss sich das vorstellen: Der schwarze Mann steht vor mir, speist mich mit leeren Behauptungen ab und dreht sich anschließend demonstrativ um. Audienz beendet. Es ist nun 5 Minuten vor Beginn der Trauung. Meine Orgel etwa 50 Meter weg. Der Priester sammelt sich geistlich und hat keine Zeit für Bittsteller. Der Mesner zuckt nur mit den Schultern.
Ich versuche den Ernst der Lage zu verdeutlichen und rede mit seinem Rücken: „Ohne Liedblätter können die Leute die vier neuen Lieder nicht singen“. Da meint der Priester, das Gotteslob liege doch aus. Auf meinen Hinweis, im Gotteslob seien die vier modernen Lieder aber nicht drin, phantasiert er, da kämen ja dann zwei Mädchen, die vorsingen werden. Dies erweist sich später als aus der Luft gegriffenes Geschwätz.
4. Station – Pfarrbüro, 13 Uhr 27:
Die Braut sitzt immer noch dort, jetzt alleine, und winkt mir mit ihrem Gottesdienstplan in Gestalt von vier gehefteten DIN-A-4-Blättern mit Notizen. Ich stehe aber auch schon mit Papier und Kuli bereit, um mir das Nötigste selbst zu notieren. Die Braut ist irritiert, schaltet ein Kopiergerät ein, tippt auf ein paar Knöpfe und schaltet wieder aus mit den Worten „Ich weiß ja gar nicht wie das Gerät funktioniert“. Dann höre ich neue Stimmen aus der Sakristei und eile hin.
5. Station – Sakristei, 13 Uhr 29:
Eine seriöse Dame ist da und hat einen Stapel Liederheftchen zur Liturgie in der Hand. Endlich ein vernünftiger Gesprächspartner, der überhaupt begreift, dass der Organist Vorgaben zu seiner Arbeit braucht! Es ist 1 Minute vor halb zwei. Ich überfliege die Blätter, entdecke ein paar unklare Stellen und wende mich an den Priester. Dieser erklärt sich für nicht zuständig und wendet sich erneut indigniert ab. Da gehe ich mit der Dame – sie ist die Tante der Braut – den Ablauf durch. Als ich ihre Ratlosigkeit bemerke, bedanke ich mich, beschließe, den Rest mit Routine zu machen, sage ihr, wir kriegen das schon gebacken, und entschwinde auf die Empore.
6. Station – Orgelempore, 13 Uhr 34:
Kaum ist das Instrument eingerichtet, Zettel und Noten aufgestellt, da bricht auch schon ein unbeschreiblicher Lärm los. Rund 120 Personen, die Hochzeitsgäste, entern den Kirchenraum. Jeder übertönt jeden, eine Stimmung wie im Zirkus. Das mächtige Fundament männlichen Gelächters wird kontrastiert vom 4-Fuß der Damen, vom 2-Fuß der Kinder, und obendrauf setzen sich die Mixturen von sage und schreibe vier Säuglingen, die diesem Klangbild der Schamlosigkeit den Strahleglanz aufsetzen.
So geht es dann den ganzen Gottesdienst lang. Die Mehrzahl nimmt amüsiert die fremdartigen und nicht mehr geläufigen Vorgänge rund um den Altar wahr. Nur wenige sind innerlich beteiligt.
7. Station – Die Brautmesse, 13 Uhr 45:
Sie beginnt eine Viertelstunde später als vorgesehen. Der Lärm im Kirchenraum reduziert sich auf das Kindergeschrei, das jedoch 70 Minuten lang anhält. Der Priester hat plötzlich die DIN-A-4-Blätter auf dem Altar liegen, die vorher bei der Braut waren und von denen er nichts wusste. Aus denen informiert er sich ausgiebig über den Fortgang des Events, wenn er selbst nicht mehr weiter weiß, studiert, blättert, liest ab. Er ist eine liturgische Wildsau und hat´s gemütlich.
8. Station - Auf der Empore:
Kurz nach Beginn des Rituals taucht ein älteres Ehepaar auf und will es sich auf der Empore bequem machen. Ich weise darauf hin, dass keine Stühle da seien. Da hat man aber schon den Stuhl des Organisten requiriert, auf dem dieser gewöhnlich Predigten zu überstehen versucht. Als dann noch das Enkelkind auftaucht, macht man es sich auf der Kniebank bequem, wo der Knabe eine Stunde lang über die gesamte Kirchenbreite von links nach rechts und zurück lärmt und rutscht und seiner Langeweile Ausdruck gibt.
9. Station – Die Predigt:
Schwerpunkt der Predigt ist eine einzige Aussage: Man darf sich um Gottes Willen nicht scheiden lassen. Es bleibt unklar, ob der Priester die Rede selbst verbrochen hat, oder ob er eben zum Stichwort „Was Gott verbunden hat, darf der Mensch nicht trennen“ einen Abschnitt aus irgendeiner katechetischen Textsammlung verliest.
10. Station – die Trauung:
Der Priester vergisst den Brautsegen. Als er sich vom Brautpaar entfernt und zurück hinter den Altar geht, intoniere ich das nun folgende Lied „Kleines Senfkorn Hoffnung“. Währenddessen studiert Hochwürden seine Blätter und reicht dann den Segen nach. Um sich gegen meine Intonation zu behaupten und sich Gehör zu verschaffen, nimmt er das Altar-Mikro aus der Halterung. Die Berührungsgeräusche der empfindlichen Teile wettern durch die Kirche. Das Kabel ist natürlich zu kurz und reicht nicht bis vor den Altar. Also ruft er das Brautpaar an das Altar-Eck. Dort macht er einen kräftigen Mikro-Check. Die Lautsprecher erzittern, das Publikum hat endlich etwas, das es begreift, und lacht aus vollem Hals. Der zweite Versuch ist akustisch etwas annehmbarer. Der Togolese segnet. Nun gibt es Szenenbeifall. Das kleine Senfkorn Hoffnung wird von mir nachgereicht.
Nach gelungener Verpartnerung - eine andere Bezeichnung fällt mir für diesen Unfug nicht ein - gibt es den innigen Schaukuss des Brautpaares. Da fordert der Priester allen Ernstes zum Beifall auf, und jetzt sind die Massen nicht mehr zu halten. Sie tun, was hier Brauch zu sein scheint, man klatscht und johlt.
11. Station – Der Ausklang:
Das liturgische Querfeldein-Rennen scheint einem gnädigen Ende zuzustreben. Aber da setzt der Priester noch einen drauf. Ich zeige das Danklied nach der Kommunion an und starte mit der Intonation. Das ist dem Herrenpriester zu lange. Unvermittelt stimmt vom Altar aus „Kumbayah, my Lord“ an. Ich breche mein Vorspiel ab. Die Leute singen mit, sie hatten ja damit schon den Gottesdienst eröffnet, was dem Pfarrer entgangen oder wurscht ist.
12. Station – Ende einer Dienstfahrt:
Pflichtgemäß lasse ich zum Auszug Mendelssohns Marsch erklingen. Ich auferlege mir keine Mäßigung und spiele ordinäres Tutti, auf diesem Instruent ein Lärm-Mischmasch. Emotionslos und gefühllos. Ich bin nicht nur wütend. Ich habe dieselben Gefühle wie 1969 in Tübingen, wenn man den Verfassungsschützern die Windschutzscheiben mit roter Lackfarbe zugesprüht hat. Aus Wut vor deren Schamlosigkeit.
Die Kirche leert sich. Entnervt schließe ich das Instrument ab und mache mich vom Acker. Das Honorar – in diesem Fall besser das Schmerzensgeld - fehlt bis heute. Ich erfahre später von der Pfarrsekretärin, dass der Priester schon im Vorfeld auf die Notwendigkeit einer liturgischen Planung der Hochzeit nicht eingegangen sei.
Was lernen wir daraus?
- Wer Organisten wie Dienstboten behandelt, der wird bald keine mehr haben.
- Wer zulässt, dass liturgische Formen zur folkloristischen Veranstaltung oder gar zum Volksfest mutieren, darf sich nicht wundern, wenn die Leute weg bleiben, die auf spirituelle Formen Wert legen.
- Kasualien dürfen nicht zum exotischen Beiwerk für Familienfeste kirchenfremder Menschen deformiert werden. Individuelle Gestaltung ist dennoch möglich, wenn man verantwortlich zusammen arbeitet.
- Arbeitsscheue Hauptamtliche sind die Totengräber der Gemeinden. Priester sind weder Gurus noch Animateure noch Feudalherren, die Dienstboten kommandieren dürfen.
- Auch in der Gemeindepraxis ist Zusammenarbeit mit gegenseitigem Respekt vor den jeweiligen Aufgaben Voraussetzung für Entwicklung. Vor allem ehrenamtliche und freiwillige Mitarbeit darf nicht durch arrogantes Gehabe und doktrinäre Selbstüberhebung verprellt werden.
Ich schwöre, dass sich alles exakt so zugetragen hat wie beschrieben!
31. Juli 2001
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen