Als ich ein Engel war

Mittwoch, 19. Januar 2011

Mal ehrlich!

Schluss mit dem Versteckspielen!

Bis heute war mein richtiger Name verborgen. Jetzt ist er nicht mehr verborgen. In Wahrheit heiße ich Reinmar Maria Gebhard Wipper, und nicht Zwei-Fuenf-Eins. Vier Namen von Position I bis IV. Drei Vornamen, ein Familienname. Praktisch seit Geburt. Genau genommen aber nur die halbe Wahrheit. Zuerst hatte ich nur den Namen Reinmar. Fünf Jahre später haben sie mich getauft. Da kamen zwei dazu. Am 27. August 1949, im Marienheim, Stuttgart, Nähe Wilhelmsplatz, wo ledige Frauen bei Nonnen wohnten. Auch die beiden Tanten wohnten dort, die uns alle zur Taufe nach Stuttgart holten. Danach hieß ich Reinmar Maria Gebhard Wipper. Namenstag von Gebhard ist der 27. August. Maria hingegen hat viele Namenstage im Jahr und ist Schutzschirm für spirituell heimatlose Katholiken, wie ich einer war, in den Augen meiner Tante Anna: Ein unschuldiger Knabe, gleichwohl der ewigen Verdammnis ausgeliefert, sollte er nicht schleunigst ins Taufwasser kommen. Unvorstellbar, dass dem Buben etwas zustoßen sollte und er ohne das Ursakrament hinüber gehen müsste. Ewiges Fegefeuer wäre sein bitteres Los, Ablage Ungetaufte Kindlein, vergessen von verantwortungslosen Eltern, ohne eigene Schuld zwar, aber der liebe Gott lässt da nicht mit sich handeln, Gesetz ist Gesetz. So lieb ist der.

Mein Vater war katholische Karteileiche geworden, nachdem er im Frühjahr 1945 mithelfen musste, das KZ Mauthausen bei Linz von den Leichen russischer Kriegsgefangener zu säubern. Zusammen mit anderen Reichsbeamten aus dem Linzer Finanzamt ist er gezwungen worden, knochige Leiber von KZ-Opfern auf Lastwagen zu werfen, damit den Amis oder gar den Russen die Beweise entzogen werden konnten. Das hat Vaters Rückgrat gebrochen. Bevor er starb hat er davon berichtet. Dann konnte er sterben. Meine Mutter war gar nichts mehr, kirchenmäßig. Nur meine Tante hatte die klerikale Unterwerfung aus der Kindheit durch den Nationalsozialismus hindurch gerettet. Und das kam nun zum Tragen, stabil verankert in der katholischen Prominenz der Hauptstadt.

Ich sitze Tante Anna gegenüber, am Tisch in der Wohnstube der Großeltern über dem Schillerplatz, mit leuchtenden Augen, bereit zu jeder Geste hörigen Gehorsams. Der Lohn war groß, fast der Himmel: Geschichten, fantastische Erlebnisse in der Wilhelma, auf dem Killesberg, auf dem Markt im Advent, bei Breuninger und bei Spielwaren-Kurz am Marktplatz, mit der elektrischen Eisenbahn im Weihnachtsschaufenster und Schwaden einmaliger Düfte, einschließlich der Rauchschwaden aus den Koksofenschlunden der Dampflokomotiven, die mich nach Stuttgart zogen. Diese Güter korrumpierten mich geradezu, schwächten zumindest die Bindung an Vater und Mutter, an Oma und Opa für den Moment.

Es ging um die Taufe, um die Konfession:
   Willst du so sein wie deine Mutter - oder so wie ich?
Die Tante aus Stuttgart war mein Idol. Ein Füllhorn der Zuneigung und des Glücks. Meine Mutter war Alltag und ohnehin überdeckt von der Oma, neben der ich am Küchentisch groß geworden bin. Die Entscheidung war klar:
   So wie du!
Und mein Schwesterchen Gunde, bereit, ebenfalls elendem Schicksal zu entfliehen, echote in ergebener Loyalität, wobei sie die Bedeutsamkeit des Moments dadurch hervorhob, dass sie den Anlautvokal gewichtig aspirierte:
   Wie mein H-reiner!
Die Tante leuchtete. Ein Gottesurteil! Und dann nahm alles seinen Weg. Bis zur Lourdes-Grotte im Innenhof des Marienheims. Da stand die steinerne Jungfrau Maria.  Mit dem Jesusknaben. Die steinerne Maria lächelte so keusch wie die Tante beim Beten. Sogar Tante Hanne war dabei, die jüngere Schwester meiner Oma, die das alles nicht kapiert hat. Ab sofort sollte ich der Reinmar Maria Gebhard Wipper sein - und war doch nur das Reinerle.
Das Reinerle war aufgehoben unter den Röcken der Oma und an ihren Teigschüsseln, auf ihrem Schoß und in ihren weichen Armen, und vor allem in ihrem hausfraulichen Duft nach Frau. Mit ihr verband mich eine geradezu animalische Erotik. Schöpfung pur, Nähe ohne Barrieren, eine verschmolzene Intimität ohne Scheu und Schranken, in gluckiger, brütiger Liebe, so selbstverständlich wie bei den Tieren.

Der Reinmar Maria Gebhard Wipper hat sich nie mit seinem Namen abgefunden. Dieser Name kam von außen, wie Putz vom Gipser. Innen drin saß ein anderer. Da kann man jetzt lang erklären warum und weshalb und so. Wer schon gefröstelt hat, unbehaust, dem Zugriff anderer ausgesetzt, den Bestimmern, wie meine Töchter später sagten: Du bist nicht mein Bestimmer! - wer das noch nie hat fühlen müssen, der kann es nicht ganz verstehen. Und jetzt geht´s schon wieder los mit dem Schämen. Immer habe ich mich geschämt für meinen Namen. Er war nicht ich. Ich musste wie er sein und war doch ein anderer.

Die Unterwäsche auch!, sagte der Aufseher. So ist das. Man steht halbnackt, fröstelt, schränkt die Arme vor dem Leib, ist schon ohne Hemd und Hose, und jetzt soll vollends alles runter. Ein Alptraum. Dann die Kapitulation. Aber wenn man durch ist, ist´s fast wie zuhause. Man schiebt die Hände vor dem Pimmel übereinander und kratzt sich am Sack. Danach ist alles leichter.

Meinen Namen habe ich nie geliebt. Von Anfang an. Er schien mir wie eine Hülse. Reiner komm her! Ich war nicht gemeint, sondern einer meiner Mängel. Dabei war Reiner die milde Form. Reinmar war die Härte, aber seltener zu hören. In der ersten Klasse habe ich nicht reagiert, als der Lehrer mich zum ersten Mal so aufgerufen hat (Du weißt ja nicht mal wie du heißt!). Ab da hieß ich nur noch der Wipper. Aber ich war kein Der. Auch keine Die. Ich fühlte mich als ein Das. Das Reinerle, und ich war ins Weibliche gebettet, in den Schoß der Oma, wie ein Käfer in die Rosenblüte. Wipper war eindeutig. Unverwechselbar. In ganz Deutschland heißt außer mir niemand so: Reinmar Wipper. Das macht einsam, reicht aber als Anschrift. Kommt immer an! Warum nur?

Und dann diese heikle Sache mit der Maria auf Position II. Für mich immer noch der Name an sich. Und ich darf ihn tragen. Aber im Verborgenen, wie wenn einer die Unterhose seiner Geliebten anzieht um an ihrem anders Sein teilzuhaben. Letztlich eine hilflose Täuschung: Und wenn er in die Geliebte eindränge und von ihr aufgenommen würde - er wäre dennoch nie so wie sie oder gar sie selbst.

Und dann der Gebhard, Position III. Den hat immer nur meine Tante erwähnt, sonst niemand, am 27. August, per Telefon oder auf einer Grußpostkarte. Sie hatte mir den ja verpasst. Als ich fünf war.

Nebenbei: Mein zweiter Name war mir immer wie ein kleiner Ausweg, an wilden Rosen vorbei, hinten raus aus dem struppigen Garten, durch ein verborgenes Türchen hinaus ins richtige Leben. Aber ich bin halt keine echte Maria. Ich heiße nur so, leihweise. Position I endet mit mar. Kommt aus dem Mittelhochdeutschen und hat mit dem mar der Maria gar nichts zu tun, denn das ist lateinisch und heißt ursprünglich Myr: Myriam, und die Türken sagen Meryem. Diese beiden mar könnte man zusammen hängen: Reinmaria. In der Musik geht das, dass ein Ende gleichzeitig der Anfang ist. In der Sprache nicht. Nicht wahr? Verbindet man diese beiden letzten Sätze so: In der Sprache nicht wahr? - dann sieht man es gleich.

Oh Gott, alle sind tot, die so an mir getan haben, und sie haben das mitnehmen müssen in ihrem Gewissen. Und ich bin übrig. Und deswegen ist jetzt Schluss mit der Scharade. Ich muss heißen wie ich genannt worden bin. Und ich bin nicht genau der, den sie nennen, wenn sie mich anreden.

Alles andere wäre Quatsch angesichts der wenigen Minuten, die mir noch bleiben. Eine Million vielleicht. Oder sechzehneinhalb Millionen. Oder auch nur 37.501 - extra mit Punkt geschrieben. Da sieht man nämlich: eine ganz große Zahl. Dabei wären das nur mal gerade so 26 Tage. Die kann man auch ohne Punkt schreiben. Da wäre nicht mal Platz für einen Punkt, so schnell sind die 26 vorbei. Sechsundzwanzig Tage auf einem Scheiterhaufen wäre sehr lang, würde aber tatsächlich nie so lange dauern, falls man rechtzeitig angezündet hat.

Ab sofort also, Mitleser merket auf, ab sofort nicht mehr anonym sondern namentlich. Und ohne Lügen. Ich lüge nämlich nie. Weil die Wahrheit so schön ist, dass für Lügen gar kein Platz bleibt. So schön!

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