Als ich ein Engel war

Montag, 17. Januar 2011

Die Gitarre

Ein unmoralisches Märchen

An der Wand hing eine alte Gitarre, klein und bestaubt. Und schrecklich verstimmt. Ihre Saiten hingen schlaff über dem Loch, und wenn man sie anzupfte, dann gaben sie ein schnarrendes Geräusch von sich. Die Hasaite machte Hiehhh, die tiefe Ehsaite Grrrsch, und wieder eine Zäpäng. Das war die Desaite, die schon immer aus der Reihe getanzt hatte, sogar schon zu der Zeit, als die liebliche Evelyne noch auf der Gitarre gespielt hatte. Sehr unmusikalisch alles und außerordentlich kläglich.
Dieses Schicksal gefiel der Gitarre nicht. Sie litt unsäglich, obwohl sie sich längst in ihr Los hatte schicken müssen.
„Die liebliche Evelyne“, sagte sie immer wieder wehmütig, als ob sie in einem vergilbtem Fotoalbum blätterte, „die liebliche Evelyne spielt gar nicht mehr auf mir. Ach, ich bin zu nichts mehr nütze. Wenn ich doch stürbe, dass man mich verbrennen wird!“ Und sie weinte, schluchzte und klagte, dass es eine Art hatte, und es machte Hiehhh, und dann Grrrsch, und sogar Zäpäng.

Das hörte eine gute Fee, die im Kinderland unterwegs war um nach dem Rechten zu sehen.
„Sieh mal an, eine weinende Gitarre!“ sagte sie.
„Du machst dich über mich lustig“, schepperte die Gitarre.
„Aber nein doch, ganz im Gegenteil, das steht dir gut zu Gesicht, wenn deine Saiten schluchzen und beben!“
„Nein, nein“, quietschte die Gitarre, „wenn ich gespannt und gestimmt worden bin, dann klinge ich ganz und gar wundervoll!“ Und dann setzte sie bittend hinzu: „Gute Fee, kannst du mir nicht helfen? Wenn du mir helfen willst, dann werde ich nur noch zu ganz wunderbaren Liedern und Gesängen erklingen. Ja, dann soll jedesmal, wenn die liebliche Evelyne mich an ihr Herz drückt und mit ihren zarten Fingern meine Saiten erregt, das schönste Lied erklingen, das die Welt je gehört hat!“
„Gut“, sagte die Fee, strich mit ihrer Zauberhand über das Instrument, wischte den Staub von dem matten Holz, glitt den langen Hals entlang und drehte solange an den messinggelben Wirbeln, bis die Saiten in ihrer ganzen gestimmten Spannkraft über das Loch in der Mitte der kleinen Gitarre sich streckten und nur darauf warteten, von jemandem zum Klingen gebracht zu werden.
„Nun kannst du´s zufrieden sein“, sagte die Fee, und die Gitarre streckte und blähte sich voller Wonne. Dabei gerieten die Saiten in Schwingung und ließen einen sanften Akkord erklingen. Nur einen, aber sehr schön und sehr gitarrig: EADGHE. Der weltberühmte, sechsstimmige Gitarrenakkord.
Im Zimmer nebenan saß die liebliche Evelyne und chattete mit ihren Freundinnen. Als die Gitarre ihren Akkord vernehmen ließ, horchte sie auf und sagte: „War das nicht meine kleine Gitarre, die da gerade so wohl geklungen hat? Seltsam, der alte Kasten gibt doch schon lange keinen rechten Ton mehr von sich.“ Und Evelyne erhob sich, ging hinüber, nahm das Holzding von der Wand und drückte es an ihr Herz, so wie es alle Leute tun, die Gitarre spielen. Und dann zupfte sie und fing an zu singen.
Ein Vöglein schwang sich in die Luft sang sie und Liebliche Nacht, in kosender Sanftmut. Aber was war das? Die Gitarre schnarrte nur und krächzte erbärmlich. Sie hatte das Klingen verlernt, und die Saiten waren dem Reißen nahe. Enttäuscht stellte die liebliche Evelyne das störrische Ding ins Eck und sagte: „Beim nächsten Sperrmüll kommt sie vor´s Haus.“
Nachts erschien die Fee und fragte die Gitarre „Wo sind denn deine schönen Lieder geblieben, man hat am Abend nur rechten Lärm gehört?“ Aber die Gitarre sagte gar nichts mehr, stand in der Ecke und trocknete vor sich hin.
„Na, wenn das so ist“, meinte die Fee enttäuscht und strich mit ihrer Zauberhand noch einmal über das Holz und die gespannten Saiten. „Schlaff!“, machte es da, und es war wie früher. Die Saiten hingen durch, kein Hiehhh mehr und kein Grrrsch, nur manchmal Zäpäng, wenn eine Fliege vorbei summte, oder wenn ein Lüftchen auf dem alten Ding den Staub berührte.
In der nächsten Woche, am Dienstag, stellte Evelyne die alte Gitarre zum Sperrmüll auf den Hof. Bis zum Abend stand sie da, und es regnete sogar in ihr Loch. Am nächsten Morgen, als die Sperrmüllmänner mit ihrem großen Container anrückten, war sie nicht mehr da. Jemand hatte die Gitarre mitgenommen. Und was dann mit ihr geschah - das ist eine andere Geschichte, ihr Naseweise.

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