Von Haus aus bin ich faul. Wie Abu der Faulpelz, dessen Geschichte eine von Tausendundeiner ist, und die ich schon als Bub immer wieder in der Sammlung meines Vaters gelesen habe. Es war eines der wenigen Bücher, die der Unnahbare nach seiner Jugend über den Krieg gerettet und bei seiner Rückkehr aus dem ungeliebten Linz a. d. Donau in den Haushalt meiner Großeltern eingebracht hatte, wo es in einem Karton schlummerte, bis meine Eltern fünf Jahre später eine eigene Wohnung unterm Dach beziehen konnten.
Das Buch stammte aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, war wohl zerfleddert gewesen oder aus dem Leim gegangen und ist deswegen neu gebunden worden, derb, in dicken Karton aus geleimtem Papier, so wie man später blödsinnige Muster herstellen musste im gymnasialen Kunstunterricht der Unterstufe, der seinen Namen nicht verdiente, und wo man Tapetenkleister auf Karton aufbrachte und dann farbig, mit dicken Pinseln kreisend verstrich.
Verstärkte Ecken hatte es auch, sowie einen schwarzgrauen Schnitt, und über jeder Textseite schlang sich eine Vignette mit Blättern, Blüten und Ranken im Jugendstil. Auch die Illustrationen - manche sogar als farbige Tafeln auf glänzendem Papier - waren verspielt-geheimnisvoll, und das Namenskürzel des Illustrators genügte sich selber in vornehmer Stilisierung der lateinischen Lettern.
Bald war es mein Buch. Die Geschichten waren meine Geschichten. Ich habe sie immer wieder gelesen. Seefahrer Sindbads Abenteuer war die erste. Mehr noch beeindruckt hat mich aber der Geist aus der Flasche, weil es mir nicht gelungen ist, das Rätsel zu lösen, wie einer, der so klein ist, nach seinem Austritt durch den Flaschenhals so groß werden, und erst recht, wie einer sozusagen Rauch sein könne, der sich so durch die Luft bewegt wie die Schwaden der ägyptischen Zigaretten, die mein Vater abends rauchte, und deren orientalischer Duft sich als hauchfeines Echo zwischen manchen seiner Buchseiten angehaftet hat, die noch heute bei mir im Regal stehen.
Nun habe ich den Bogen von Abu dem Faulpelz bis zu Alfred Polgar fast schon gespannt.
Abu lag vorwiegend auf seinem Lager, dessen Bezeichnung mir schon damals, als Kind, rein sprachlich ausgesprochen sinnvoll erschien. Von diesem Lager aus, einer Art Ottomane, reich bestückt mit bestickten und mit Troddeln behängten Kissen und von Silber durchwirkten, geknüpften Decken, umstanden von Wasserpfeife und Obstschalen, kühlen Krügen, getäfelten Kommoden und Kästchen, wollte Abu sich nicht erheben. Er blieb in Ruhelage, die Knie angezogen oder seitlich abgelegt, hin und wieder ein Gähnen. Ein einziges Gelage, Tag für Tag, denn er hatte einen Affen, der ihm zu Gebote stand, eine Art Diener, der ihm alles beischaffte, wonach ihm war. Das faszinierte mich ungemein. Ich ahnte, das bin ich. Abu glich mir bis in die Tiefe meiner kindlichen Seele, die heute noch dieselbe ist wie damals in der Nierentischchenzeit mit einem Buch, das schon fünfzig Jahre hinter sich hatte. Und, bei Gott, noch heute, als alter Mann, jedesmal wenn ich mich flach lege, und das tue ich mehrfach am Tage, zum Nachdenken, Lesen und Schlummern, begleitet mich die schwache Erinnerung an Abu den Faulpelz, samt der familiären Szene, in der ich zu meiner entsetzten Mutter gesagt habe, so wolle ich auch einmal leben, wenn ich groß bin. Was man halt so Leben nennen darf, wenn man vornehmlich liegt. Sogar mein Klavier sollte sich quer übers Lager spannen, einer Brücke gleich, so dass ich sofort nach dem Erwachen spielen und vor dem Einschlafen mich noch einmal mit meiner Musik einlassen könnte, die ich ansonsten tagsüber, wie dann und wann Rilkes Elefant, zitieren wollte, so wie mir eben danach sein sollte.
Heute steht mein Bett zwischen Büchern. Ungefähr so wie beim armen Poeten von Spitzweg. Allerdings ist nicht nur ein schräge Wand sondern sind drei Wände lückenlos ausgestellt vom Boden bis zur Decke, wie in einer Bibliothek, und in den Regalen reihen sich meterlang die Buchrücken, Errungenschaften aus 60 Jahren. Die seien nur abzustauben, sagt Ma Dame, und zu sonst nichts mehr nütze, wenn ich sie denn schon gelesen habe. Ich lese aber manche Bücher nicht nur einmal. In manche schaue ich nur hin und wieder hinein, und manche habe ich noch gar nicht gelesen, nicht mal aus der Plastikhaut befreit, in die verschwitzt man sie ersteht oder geschenkt bekommt.
In Reichweite meines Lagers stehen diejenigen meiner Bücher, die dem Herzen nah sind. So dass ich sie schnell in der Hand habe, wenn mir nach dem einen oder dem anderen ist. Ich kann sogar zwei oder drei davon gleichzeitig neben mir haben (Ma Dame, und nicht nur sie, schüttelt darüber das Haupt), abwechselnd darin und daraus lesen und das Gewusel der Assoziationen hinter meiner Stirn verfolgen. Natürlich nur Bücher, die ich schon kenne, Dependancen meines Hirns sozusagen. Alfred Polgars Großes Lesebuch gehört dazu, und vor zwei Wochen ist es mir wieder in die Hand gekommen, und seither lege ich es gar nicht mehr weg. Wie oft schon habe ich darin geschmökert, wie in einem altbekannten Fotoalbum, immer wieder neue Details entdeckend, querbeet, denn man findet sehr viele und nur kleine Texte darin. Kurze Texte wäre besser gesagt, denn klein sind sie beileibe nicht, im Sinne von banal oder beiläufig oder überflüssig. Sie sind 50 bis 100 Jahre alt und erschließen ein sprachliches Weltall, das mich immer wieder auf´s Neue fasziniert und begeistert.
Und was ist nun mit dem Regenbogen von 1001 Nacht zu Polgar? Erstens ist 1001 Nacht ebenfalls eine Sammlung von Geschichten und Geschichtchen. Zweitens machen Polgars Lesestücke ein Varieté der Themen und Empfindungen auf, auch wenn man sie nur beliebig aufschlägt, wie beim Bibelstechen: Ein Panoptikum von Bissigkeiten und Wahrheiten, von Poetik und zerbrechlichen Gedanken, das seinesgleichen sucht. Drittens hat Polgar in der Jugendstilzeit - die mich immer schon beeindruckt hat, in allem, grafisch, literarisch, musikalisch und in ihren Aufbruchgedanken - seine literarische Arbeit begonnen und entwickelt. Viertens denke ich an ihn - in Gestalt dieses Buches - jedesmal, wenn ich mich als Abu in die Waagrechte begebe, und das mehrmals am Tag, und bedenke: Na, was lesen wir denn jetzt? Fünftens hat Polgar in Wien gelebt, in der Stadt, von der mein Vater trotz aller Vorbehalte, die er sich gegen die politischen Wendehälse zwischen 1937 und 1946 in seiner österreichischen Beamtenzeit angeeignet hatte, mit Bewunderung und Hochachtung gesprochen hatte, ich aber bis heute nie da war, und er, an der noch schmalen Donau im schwäbischen Ehingen aufgewachsen, es Donau abwärts eben doch nur bis Linz gebracht hatte. Und schließlich sechstens: Polgar rauchte dieselben Zigaretten wie mein Vater. Das sieht man auf dem Coverfoto des Großen Lesebuchs, das übrigens von Harry Rowohlt zusammengestellt, herausgegeben und mit dem schönsten, längsten Vorwort auf den Weg geschickt worden ist, das ich je gelesen habe und bald auswendig kenne.
Die Überschrift zu dieser Kolumne stammt ebenfalls von Harry Rowohlt, ist allerdings von mir um das Wörtchen nich am Ende gekürzt, um es meinen Zwecken einzupassen.
Auf Seite 174 beginnt der vierseitige kleine Essay DIE KLEINE FORM quasi ein Vorwort. Darin gibt Alfred Polgar seinen Rezensenten und Kritikern, die von der Kleinheit seiner Formen des Erzählbandes An den Rand geschrieben und vom Titel selber her seine Texte und damit ihn, den Literaten, als Randerscheinung abtun wollten, in kleinen Dosen soviel Rattengift, das diese Schreiber reihenweise im Prater oder auf der Schöneberger Heide sich haben verendend strecken müssen. 1926, als er dies formuliert hat, war er bereits nicht mehr in Wien, sondern bis zu Beginn des Naziterrors in Berlin. Und dort, mitten in der Weltwirtschaftskrise, in der pulsierenden Weltstadt Berlin der so genannten Roaring Twenties, schrieb er:
Das Leben ist zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig für verweilendes Schreiben und Betrachten, zu psychologisch für Psychologie, zu romanhaft für Romane, zu rasch verfallen der Gärung und Zersetzung, als dass es sich in langen und breiten Büchern lang und breit bewahren ließe.
Und etwas weiter davor:
Ich glaube, dass die kleine Form der Spannung und dem Bedürfnis der Zeit gemäß ist, gemäßer jedenfalls, als, wie eine flache Analogie vermuten mag, geschriebene Wolkenkratzer es sind.
Nie habe ich das anders empfunden. Vor allem auch deswegen, weil meine eigenen Gedanken sich so schnell überschlagen, dass ich noch nie in meinem Leben etwas Längeres als höchstens ein Dutzend Schreibseiten am Stück fertig gekriegt habe. Und wenn es hat mehr sein müssen, dann nur durch unmenschliches Aufbäumen gegen mein Naturell.
Ein zweites kommt erschwerend dazu. Ich schnitze alles Niedergeschriebene mehrfach um, kappe, kürze, strecke, drehe - so lange, bis es passt. Das braucht Zeit und Geduld für den Einfall. Deshalb stand unter meinen Aufsätzen bis zum Abitur stets 4-5 samt dem Vermerk: Durchaus brauchbare Ansätze, aber ohne Ordnung, sowie sprachlich und stilistisch ein großes Durcheinander. Ja, so ist es eben erst einmal, wenn man einen Sack ausschüttet. Ich bin nie in der gewährten Zeitspanne fertig geworden. Die erste Gedankenflut hatte mich immer erdrückt, oder verdursten lassen, wenn sie gleich zu Beginn ausgeblieben war. Meine Lehrer wollten das nicht erkennen, geschweige denn begreifen. Sie konnten nur noch in den Bildungsschablonen von Stoffmengen und Stunden und Seitenzahlen und Durchschnittsnoten denken.
Polgar:
Obwohl mich so mein konsequentes, mit mancher Qual verknüpftes schriftstellerisches Bemühen, aus hundert Zeilen zehn zu machen, zum Autor für Nachspeise- und Vorschlummerstündchen herabgesetzt hat, obwohl ich bittere Phantasien wälzte, wie, hätte ich´s umgekehrt versucht und hundert Zeilen immer zu tausend zerrieben und zerschrieben, wie ich also dann vielleicht dastünde, eingesenkt in den Fettnapf der Anerkennung, den ganzen Tag mit Honorare-Quittieren und Autogramme-Geben reizvoll beschäftigt, im Besitz eines Motorboots, eines goldenen Füllfederhalters und zweier schottischer Schäferhunde, denen ich die Namen meiner Helden meines berühmtesten Romans gäbe, nicht übergangen von den Rundfragen der Journale: Welches ist Ihre liebste Süßspeise? Was und vor allem warum arbeiten Sie?, abgebildet in der Illustrierten Zeitung und von Schwärmen süßer Frauen begehrlich umflattert..., will ich doch keineswegs behaupten, dass meinen Büchern Unrecht geschehe, wenn man sie als Bagatelle behandelt.
Mann oh Mann, aber was für Bagatellen! Seit dem 31. März 1968 will ich mein Stuttgarter Buch schreiben. Der Berg war zu groß bisher. Jetzt scheint er durchsichtig. So schreibe ich also in Portionen, die für´s Vesper zwischen 9 Uhr und 9 Uhr 30 gerade hinkommen. Aber immer eingedenk eines letzten hier zitierten Satzes von Alfred Polgar:
Ich bin mir überdies wohl bewusst, dass auch in einer Geschichte von geringem Umfang gar nichts stehen und dass die kleine Form ganz gut ein Not-Effekt des kurzen Atems sein kann.
Sehr schön zu lesen! Ich bin eine Fan-nin Ihrer Leserbriefe und freue mich, hier so richtig schwelgen zu können in ordentlichem Deutsch.
AntwortenLöschenAllerdings war das mir den Aufsätzen bei mir immer anders. In der Mittelschule konnte ich nie ein Ende finden, die Phantasie ging mit mir durch und unter viel Seiten gab ich nichts ab. Diese vier Seiten zu schreiben nahm die Stunde in Anspruch, die zur Verfügung stand, umarbeiten war unmöglich. Das brachte mir dann auch nur "gut" ein und selten einmal etwas besseres.
In der Ausbildung zur Erzieherin, ca. 20 Jahre später, hatten wir einen Deutschlehrer, der richtig gut motivieren konnte und die Themen waren andere als früher. Mein bester Aufsatz war da nur eine knappe Seite lang und beim Austeilen habe ich gezittert, weil ich dachte, ich hätte bestimmt eine sechs bekommen. Ich glaube, der Lehrer hieß Dr. Blank, kann das sein? Er hatte den besten und den schlechtesten Aufsatz immer bis zum Schluss aufgehoben, an diesem Tag war meiner dabei. Es ging um ein Gedicht, dessen Aussage zu beschreiben war. Als er den schlechtesten Aufsatz ausgegeben hatte, war noch meiner übrig und er meinte, ich hätte in genau fünf Sätzen alles gesagt, was zu sagen sei und das wäre eine Eins. Ich kann es bis heute noch nicht begreifen, aber es war wohl eine Sternstunde meines Lebens. Heute brauche ich wieder viel mehr Worte und Sätze.
Dr. Rupert Blank war von 1976 bis zu seiner Pensionierung mein Kollege. Jahrelang aßen wir nebeneinander im lehrerzimmer. Von ihm habe ich viel gelernt, Maßgebliches! Selten habe ich einen Menschen erlebt, der das Attribut "aufrechter Mann" nicht nur besaß sondern lebte.
AntwortenLöschenSie und ich, wir müssten uns aus der Schulzeit kennen. Vielen Dank für Ihre Zeilen. Aus Sternstunden, die man der Güte oder ein paar Worten oder einem Blick von anderen zu verdanken hat, sind Wegweiser durch´s Leben.