Als ich ein Engel war

Dienstag, 25. Januar 2011

Heinrich Thumm, Urgroßvater. Die Bilder.

Familienarchäologie, in Fotoalben, Schuhkartons und Leitzordnern. Ein Welt tut sich auf, durchs Schlüsselloch der wenigen Fotografien, die noch vorhanden sind. Hier ist alles, was zu finden war.
Lieber Großvater, noch höre ich deine Kirchenglocken läuten, oben im Stadtkirchenturm, samstags vor den Hochzeiten. Und ich sehe dich danach im Liedle dein Achtele trinken und deinem bösen Weib eine Mär aufbinden, wo du noch überall hast einen verbesserten Anzug ausliefern müssen, oder einen geflickten Kittel oder eine Hose. Und sie hat dir nicht geglaubt und dich klein gekeift. Ich weiß, dass du meiner Mutter, als sie ein kleines Mädle war, oft ein Fuffzgerle geschenkt hast: Da, Camilla, kauf d´r em Cafe Glocker a Törtle.
Urgroßvater Heinrich Thumm als alter Mann in seiner Schneiderwerkstatt, Hundsgasse 33. Auf seinem Arbeitskittel sauber aufgenähte Flicken, dort, wo der Stoff aufgescheuert wird durch ständiges Hin und Her der Werkstücke. An der Wand Schnittmuster aus Leinen und eine Kleiderbürste. Links davon das Fenster zur Alleenstraße, durch das schon meine Mutter als kleines Mädchen dem Saumarkt zugeschaut und die Schweine quieken gehört hat. Ein Stapel Zigarrenkistchen mit Schneiderwerkzeug. Auf dem rechten Knie eine kleine Textilarbeit, irgendetwas zum Ausbessern oder Einnähen.
Für dich, lieber Urgroßvater, stelle ich ins Netz, was dich erinnert, und das die Wenigen, die dich noch kennen, an dich erinnern lässt. Meine Leser sind sogar in den USA. Von dort kommst du her. Dann sollen sie´s dort auch wissen: Das ist Heinrich Thumm, der in  einem Holzschuh den Neckar herab kam, und in Wahrheit im Hafen von Philadelphia das Licht der Welt erblickt hat, nachdem ihn der Geschäftsmann Carl Klegler in Philadelphia mit einer ledigen Bauknecht aus Neckarhausen, die bei ihm im Haushalt gedient hat, gezeugt hatte.
Ich weiß nicht mehr, Großvater, ob ich dir je etwas auf Vaters Klavier habe vorspielen können, in der Apothekerstraße. Meine Fortschritte waren noch bescheiden, vor sechzig Jahren, als du gestorben bist. Aber ich wünsche mir so sehr, dass ich das hätte tun können.
Eines Nachts stand die Oma unten auf der Apothekerstraße:
   Wo sind eure Eltern?
   Nicht da, bei Boschs im Tiefenbach.
   Euer Großvatter isch gstorba!
Ich weiß nicht mehr, wie es in dieser Nacht weiter ging. Ob Oma in den Tiefenbach gelaufen ist, oder wieder heim in die Hundsgass´, wohin sie gezogen war, um den alten Urgroßvater nicht alleine zu lassen. Mein Schwesterchen hat geweint. Ihr schwante etwas Schwerwiegendes, und mir drehte sich im Kopf eine leere Bühne. Ich wusste nicht, was das Sterben bedeutet.
Du hattest mich getragen, Großvater, in deinen Armen, und ich war geborgen in deinen Armen, und ich will dir mit meinen Händen spielen, was dir gefällt, aber ich kann es nicht mehr tun, für dich tun. Ich kann es für mich, und morgen tu ich es für Mariele, deine Ur-Ur-Ur-Enkelin. Heute Morgen lag sie am Sofa, und sagte, Opa, nicht so laut. Ich habe ihr Bachs Air aus seiner D-Dur-Suite auf dem Klavier gespielt. Und sie hat still zugehört und dann gesagt, Opa, und jetzt Schneeflöckchen, Weißröckchen. Das habe ich dann gespielt, und draußen fing es an zu schneien. Und auch Lasst uns froh und munter sein.
Wenn es das gibt, was die Leute so glauben, dann hast du mein Klavier gehört, denn ich weiß, wo du gelebt hast, und ich kann im Waldfriedhof den Ort zeigen, wo sie dich in die Erde gelassen haben, kaum dass der Friedhof angelegt war.
Meinem Opa, deinem erstgeborenen Sohn, habe ich den König-Karl-Marsch gespielt und den Finnländischen Reitermarsch, später, als wir schon halb in Kirchheim wohnten, nachdem uns meine Stadt nicht mehr in ihren Mauern haben wollte. Oma bekam das Wolgalied, und ich anschließend fünf Mark. Meine ersten Gagen.
Und hier kommt das ansehnlichste Foto meiner Sammlung. Ein stattlicher Heinrich Thumm mit Weib und Nachkommen:
Familienfoto um 1913.
Sitzend Heinrich Thumm, Schneidermeister, und seine Frau.
Stehend von links:
Heinrich Thumm, Stricker,
Lina Gaugenmaier, geb. Thumm,
mein Opa Karl Thumm, Strickmeister.



Die Kinder (v.links) zur Zeit des 1. Weltkriegs: Heinrich, Lina, Karl.
Großvater Heinrich Thumm, ca. 1950 beim Maientag.
Zylinder war Pflicht am hohen Festtag.
Im Hintergrund das Gebäude der Mühle
an der Neckarbrücke, in dem meine Mutter
ein und ausging, weil dort
ihre Freundinnen wohnten.


 Mit Enkelin Ruthle in Heidenheim.

Mit Tochter Lina, deren Mann Hans Gaugenmaier und Tochter Ruthle, seiner Enkelin, auf einem Kinderfest.

Eine Feldpostkarte aus der Ulmer Kaserne, jahrzehntelang Sammel- und Startplatz schwäbischer Männer, die in den Krieg mussten. Adressat: Sohn Karl oder Carl. Auf dem Bild vermutlich Heinrich Thumm. Das Alter der Hände zeigt einen Mann mittleren Alters.
4. März 1918
Lieber Carl!
Deine Karte habe heute erhalten, wofür ich dir bestens danke, und dir ein Bild von mir zum Andenken an unsere Rekrutenzeit 1918. L. Karl, Hatte gestern 1 Tag Urlaub habe bei Familie Schweizer auch einen kurzen Besuch gemacht, ist alles noch gesund, was ich auch Hause und von mir berichten kann. L. Carl! Gratuliere Dir auch herzlich zu deinem Geburtstag, und wünsche dir von Herzen, daß du bald wieder nach Hause kannst zu deiner Familie. Indessen grüßt dich herzlich dein Vater.
Der Namen wegen kann diese Postkarte nur vom Urgroßvater selbst geschrieben worden sein und nicht von meinem Opa, der selber komplette vier Jahre im Krieg war. Beide Männer haben ähnliche gestalt und Gesichter. Das Datum irritiert: 4. März 1918. Heinrich Thumm war da bereits knapp 50 Jahre alt. Ist er gegen Ende des Krieges noch rekrutiert worden? Aber der Geburtstag des Sohnes Karl Thumm, meines Opas, ist der 13. März. Die Familie Schweizer ist die Schwiegerfamilie meines Opas, in die er als Soldat während des Ersten Weltkrieges, am 28. Januar 1917, eingeheiratet hat: Meine geliebte Oma, Maria Camilla Schweizer aus dem Hafengässle.

Die Familie von Schneidermeister Heinrich Thumm, anlässlich seiner Goldenen Hochzeit im April 1943. Das Jubelpaar in der Bildmitte. Die Urgroßmutter hatte noch fünf Jahre zu leben, der Urgroßvater noch acht. Daneben in Polizeiuniform mein Opa Karl Thumm, seine Frau Maria Camilla, meine Oma, oben in der Mitte. Zweite von links ist Heinrichs Tochter Lina, geb. Thumm, verheiratet mit Hans Gaugenmaier, Elektromeister aus Heidenheim, rechts über ihr, mit Fliege, den sie als Pflegekraft im frisch erbauten Nürtinger Gymnasium gepflegt hatte, das im 1. Weltkrieg Lazarett war. Zweiter von rechts Onkel Heinrich, der Bruder meines Opas. Über ihm seine zweite Frau, die stadtbekannte Helene Thumm, die als "Thumme" mit ihrem Schandmaul den Gemüsemarkt vor der Kreuzkirche dominiert hat. Ganz rechts Ruth Gaugenmaier. Die Mädchen vorne allesamt Heinrichs und Helenes Kinder: Lore (aus erster Ehe), Alwine, Margret und Lisbeth, die noch heute in Nürtingen lebt. Ganz links meine Mutter Camilla Wipper, geb. Thumm, Tochter von Karl Thumm, die just zu diesem Zeitpunkt mich als kleinste Leibesfrucht in sich trug oder kurz vor ihrer beginnenden Mutterschaft stand. Neun Monate später, im Januar 1944, wurde ich geboren.
Großvater Heinrich Thumm.
Immer ordentlich gekleidet,
mit Weste, modisch langem Leinen-Jackett,
langem Kragen und Krawatte.
Die Hosen mit Aufschlag,
lässig über den Schuhen bis zum Boden.

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