Früher war das Jahresende ein Bollwerk. Der 24. Dezember stand davor wie eine Mauer, die jeden Blick verwehrte. Dieser Tag musste erst einmal genommen sein! Die Geschäftigkeit der Mutter so rar wie die Christbaumkugeln, die in stets denselben Kartons aufbewahrt waren. Zu viert, zu sechst, und kaputt ging kaum eine, weil sie der Vater mit penibler Beamtenpräzision aufhängte. Im Januar waren sie dann weg. Mutters stilles Pflichtprogramm. Und der Januar war weit, mit ihm die neue Jahreszahl.
Und mit ihr mein Geburtstag. Der dritte Januar, letzter Akt einer dichten Zugfolge, immer in den Schulferien, ohne Mitschüler (Hoch soll er leben), ohne Lehrer und Alltag.
Zuerst aber der geheimnisvolle Heiligabend, Pfeiler der Zeitlosigkeit. Nachmittags bei Oma und Opa, Saitenwürstchen, Kartoffelsalat und Bauernbrot mit Butter. Dazu süßer Sprudel, weil Festtag war. Dann der Gang mit Geschwistern und Großeltern durch das verschneite Nürtingen nach Hause. Nie kam ich bewusster an als an diesem Tag, und immer mit dem Gefühl, aus der Fremde heim zu kommen. Die schönen Lieder wie Bildtafeln und Papa am Klavier. Die Geschenke, überschaubar, aber Garant für ein langes Glück an diesem Abend und an den Tagen danach.
Hinter dem Heiligabend türmten sich zwei Sonntage. Die Welt trat auf der Stelle, die Uhrzeiger drehten sich ohne die Zeit zu bewegen. Drei bis vier Gottesdienste als Ministrant in vorderster Reihe. Besuch der vornehmen Tanten aus Stuttgart. Und danach ging ganz langsam die Luft aus der Woche. Schlitten fahren, Baukasten spielen, Monopoly zocken, Spätzle essen und Haselnussgutsle knabbern.
Silvester war wie ein Wassergraben um die Familienburg. Keiner kommt drüber, keiner rüber. Und an Neujahr musste man zu den Hausleuten gehen, einen Stock tiefer, zum Wünschen, Lachen, a guats Neu´s, gell, und Hoffnungsreden hören. Oh, wenn m´r no älle g´sond bleibet. Und dann mein Geburtstag, mit Lieblingsessen und Kinderkafferunde, mit Mikado, Viereckenraten und Schneeballschlacht. Danach war ich fertig. Ein Gebirgsmassiv war überwunden. Zwei Wochen Ausnahmezustand. Und dann lag das unbekannte Jahr vor mir wie ein leeres Feld.
Heute, am 20. Dezember 2010, weiß ich, dass in 4 Tagen Heiligabend, die Festtage mit dem Sonntag vorbei, Silvester in 11 Tagen und mein Geburtstag in 14 Tagen gewesen sein wird. Ich möchte das jetzt nicht wissen. Ich möchte mich überraschen lassen. Es gelingt mir aber nicht mehr. Meine Zeit hat ihre Geheimnisse verloren. Sie rinnt durch die Hand. Die Sorgen bleiben darin hängen.
Morgen gehe ich mit Mariele hinüber in unsere Kirche, zur leeren Krippe. Dann werde ich ihr erzählen, dass bald Maria und Josef kommen, mit dem Jesulein. Und die Hirten und die drei Könige aus dem Morgenland mit ihren Geschenken. Und Mariele wird fragen, Opa, wann kommen die Könige mit ihren Geschenken? Erst wenn das Jesulein da ist, sage ich dann, und da müssen wir noch eine Weile warten, vielleicht sehen wir vorher schon einen Engel, der uns sagt, wann es soweit ist. Und Mariele wird sagen, ich will, dass das Jesulein jetzt gleich kommt. Und ich frage, sollen wir morgen wieder kommen und gucken, wer weiß, ob man da schon was sieht? Und Mariele wird sagen, ich will aber gleich, und sie wird sich gedulden müssen und sich vielleicht freuen und rätseln, wann bald ist.
Mein Bald sehe ich schon, hinter den Festtagsmauern. Ich bin zu groß geworden. Ich kann drüber weg schauen und sehe es winken, weiter hinten, noch ganz klein, aber eben bald.
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