Im Winter 1965 auf 1966 hatten die Beatles Rubber Soul gemacht und ein halbes Jahr später kam Revolver in die Läden. Dazwischen war meine Premiere als Schaffner bei der Stuttgarter Straßenbahn AG. Über Ostern bin ich sechs Wochen lang Vierer, Fünfer, Neuner, Acht/Achtzehner und Zehner gefahren. Manchmal sogar den Fünfzehner. Die Beatles-Songs haben mich Tag und Nacht begleitet. Ich konnte viele davon auswendig, auf der Gitarre, auf dem Klavier, wir haben sie dreistimmig gesungen. Und ich träumte davon, Popstar zu werden, weil ich Seelenfreund dieser Songs war. Aber in der Musikhochschule galten solche Dinge buchstäblich nichts. Sie fanden nicht statt.
Ein Teil von mir hing noch an der Nabelschnur nach Hause. Dort ging Uli zur Schule, und der hatte Anita zur Freundin, einen fünfzehnjährigen Irrwisch, der Gedichte über Teenager in schwierigen Situationen schrieb. Im Ton wie Bob Dylan. Oder Charles Bukowski, nur nicht so hart und direkt, eher anklagend. Motto: Teenager fragen, Erwachsene schweigen.
Anita war zauberhaft. Eine dünne Fee, verträumt und fantasievoll, mit spinnigen Ideen. Ihre saloppe Unbekümmertheit verdeckte das zerbrechliche Wesen. So wenigstens wollte ich sie in Gedanken bewahrt wissen. Mit ihr und vielen anderen jungen Leuten traf ich in den Jahren zuvor regelmäßig zusammen, in der Kirche, in den katholischen Jugendgruppen, bei Festen und Ausflügen.
Und jetzt war Uli hinter ihr her. Das passte mir nicht, weil ich sah, dass Uli nicht sah, wie zart Anita war. Wie zart Anita mir erschien. Wie ich Anita als Inbegriff der Zartheit idealisierte. Wie ich Anitas Zartheit pachten wollte wie einer, der beansprucht die Talente eines Stars entdeckt zu haben, den er niemand anderem gönnt.
In der Karwoche 1966 war ich täglich zwei mal vier Stunden auf dem Wagen. Manchmal sogar Doppelschichten, vor allem an den Feiertagen, weil da die echten Straßenbahner gerne frei haben wollten. Am Karsamstag, während einer letzten Tour im Vierer (Obertürkheim - Hölderlinplatz, und nachts um halb Zwei ins Depot Ostheim), war wenig los. Ich saß im Triebwagen hinten auf dem Schaffnersitz und hatte nie mehr als fünf, sechs Fahrgäste an Bord. Die Beatles-texte hatte ich abgeschrieben und auf dem Pult unter dem hölzernen Klappbuch mit den fahrscheinen liegen, zum auswendig lernen. Und dann ist mir Anita eingefallen. Ich glaube bei Here I stand, Head in Hand, Turn my Feet to the Wall. Das war noch von der Platte Help. Hey, you´ve got to hide your love away! Da habe ich mein schönstes Gedicht jener Jahre geschrieben. Für Anita.
Das Starterbild - ohne das geht nichts - war ein mickriges Schwarzweiß-Foto, das ich im Geldbeutel hatte. Es zeigt Anita, wie sie zwischen Birken auf einer der Wiesen zur Burg Teck hinauf davon eilt. Wir waren zu dritt unterwegs gewesen. Uli, Anita, ich. Uli wollte plötzlich die Elfe küssen. Das war damals noch eine Affäre. Anita erschrak, entsetzte sich und lief Hals über Kopf davon.
Anita zwischen den Birken. Das wurde mein Gedicht. Ich liebe es.
Für Anita
Du bist so hell, dass man dich zwischen Bäumen
Leuchten sieht und schlanke Zweige Schwestern
Deiner Seele nennt, in deren Nestern
Tausend Vögel Ast und Krone säumen.
Die sangen Deinen Träumen Wiegenlieder,
Hüpften federleicht die Märchenpfade
Deiner Kindheit, hin bis zum Gestade
Erster Liebe. Und sie fliegen wieder,
So wie Adler kreisen: Breite Schwingen
Rühren zauberkräftig deine Brust,
Die Märchen, die ein Kind ersann, entschwinden.
Und wo dein Licht den Wald liebkoste, binden
Bunte Gläser seinen Glanz, und Lust
Erhält dich still verlangend allen Dingen.
Vor wenigen Tagen hat mir Anita zum Geburtstag einen Gruß geschickt. Als Kommentar zu meinem Blog-Beitrag von Neujahr. Danke, du Engel!
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