Als ich ein Engel war

Dienstag, 15. Februar 2011

Vor bald 100 Jahren

Sie wohnten gerade mal 250 Meter voneinander entfernt. In der Hundsgasse der Karl, Camilla im Häfagässle. Das Häfagässle heißt offiziell Häfnerstraße, weil dort früher die Nürtinger Topf- und Keramikhandwerker wohnten. Die Hundsgasse heißt schon lange  Mönchstraße. Das klingt in den Ohren der Nürtinger günstiger. Hundsgasse hieß sie, weil dort die Hundezwinger des Nürtinger Schlosses standen, direkt an der Stadtmauer, mit direktem Ausgang zu den Neckarauen.
Karl wurde 1891 geboren, Camilla ein Jahr später. Er war der erste Sohn von Schneider Heinrich Thumm und durfte seinen Eltern bei der Hochzeit den Schleier tragen. Camilla war die Tochter von Christian Schweizer, dem liebsten Opa der Welt, wie meine Mutter ein Leben lang erzählte. Sie hatte zwei Brüder, die sie beide überlebte. Der eine fiel im Ersten Weltkrieg, der andere ging während des Zweiten Krieges an Tuberkulose zugrunde.
Wie Camilla ihren Karl oder Karl seine Camilla kennen gelernt hat, weiß ich nicht. Darüber hörte ich keine Geschichten. Sie müssen sich jahrelang in der Schule begegnet sein, und haben wahrscheinlich schon als Kinder an der Steinach gespielt, kurz vor deren Mündung in den Neckar.
Kamilla Maria Thumm, geb. Schweizer
Meine geliebte Oma
1892 - 1962
Camilla durfte keinen Beruf erlernen. Die kluge Frau blieb ein Leben lang ungebildet und kam praktisch nie aus Nürtingen hinaus. Sie wurde Hausfrau und Mutter mit allen Qualitäten der schwäbischen Kleinbürgerlichkeit. Sie konnte kochen und backen wie eine Weltmeisterin und hat, seit ich sie kannte, kein papierenes Rezept benützt. Sie hatte alles im Kopf und in den Händen, und jedes noch so einfache Gericht aus ihrer Küche könnte es heute mit jeder Kost der neuen bürgerlichen Kochkunst aufnehmen. Als junge Frau war sie sehr schön. Ich trat in ihr Leben, als sie 53 war. Da war sie schon dick und warm, aber meine erste große Liebe. Sie hat mich in ihr Herz geschlossen als Ersatz für ihren Sohn, der plötzlich nicht mehr da war. Von ihr habe ich alles bekommen, was ein Bubenherz braucht. Sie war aber sehr traurig. Ihr Emil ist 1944 von der Pariser Résistance ermordet worden ist. Und als sie 1962 hat sterben müssen, weil niemand ihre Zuckerkrankheit bemerkt hatte, haderte ich mit meinem katholischen Gott  Nächte lang. Diesen Schmerz fühle ich noch heute. Ich habe meine Oma sehr geliebt, und ich liebe sie noch heute.
Karl war Stricker und hat es zum Strickmeister gebracht. Er lernte in Balzholz, kam aber bald nach Nürtingen zurück, wo damals weit über zwanzig Strickerein standen. Zum Krieg wurde er sofort eingezogen, mit 23 Jahren. 
Karl Heinrich Thumm
Mein geachteter Opa
1891 - 1975
Er hat ihn unversehrt überstanden, obwohl er vier Jahre fort war, im Osten und im Westen, und so viel Schlimmes gesehen hatte, dass er zeitlebens davon erzählte. Erst im dritten Kriegsjahr haben die beiden geheiratet, am 28. Januar 1917, in der Stadtkirche, ihr erstes Kind, meine spätere Mutter, sollte ja schon im April zur Welt kommen. Vermutlich ist sie als Liebesfrucht eines Urlaubs von der Front gezeugt worden. So wie ich auch, 27 Jahre später. Opa war mein Vater, während der richtige Vater während des Krieges nicht zuhause war. Von ihm habe ich noch vor meiner Schulzeit alles gelernt, was man mit den Händen arbeitet. Ich habe ihn hoch geachtet. Vom Vater indessen habe ich abgeguckt, was man mit den Händen auf dem Klavier macht. Sein Beruf als Beamter in der Finanzverwaltung war mir nicht zugänglich.
Zur Hochzeit der Großeltern gab es in der Kirche eine dicke Bibel. Auf der ersten Buchseite steht der Eintrag des Pfarrers:
Trauungstext war Psalm 121, 7.8.
7.   Der Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele;
8. Der Herr behüte deinen Ausgang und deinen Eingang von nun an bis in Ewigkeit.
Das Von-Nun-An meiner Großeltern habe ich teilweise miterlebt, mit Leid und Tränen. Da habe ich den Herrn öfters vermisst. Oder nicht wahrgenommen? Der Wechsel auf die Ewigkeit wird oft ausgestellt. Ist er je eingelöst worden?


In liebevollem Gedenken, euer Reiner
Karl und Kamilla Thumm aus Nürtingen.
Zur Zeit ihrer Vermählung ca. 1916





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